Das Zeitfenster zum Mai

1 ♥ // Herz verschenken
Freitag, 12. Oktober 2012. Die Zigarette schmeckte nicht. Der ganze Tag schmeckte mir nicht. Es war 20:00 Uhr und beißend kalt. Kopf- und Gliederschmerzen bestimmten die letzten Stunden. Zwar wurden sie mittlerweile schwächer, doch das änderte nichts an meiner schlechten Laune. Ich verfluchte mich, weil ich mich von Joe hatte breitschlagen lassen und mitgekommen war. Uns erwartete hier nichts. Nur chillen bei ihrem Freund. Und chillen hätte ich auch zuhause können. Monatelang war ich nicht mehr hier und ich wusste auch nicht was mich dazu verleitete hierher zu fahren. Vielleicht war es Intuition. Vielleicht war es meine Dummheit. Ich fand keine Antwort auf diese Frage. Joe und Tom liefen vor mir und ich blieb beabsichtigt ein paar Meter zurück. Wir waren schon fast eine Stunde unterwegs und unsere Odyssee schien kein Ende zu finden. Ich war so vertieft in meinen Gedanken über meine Noch-Beziehung, dass ich nicht sofort merkte, dass Joe stehen geblieben war. Erst als sie auf mich einredete erwachte ich aus meiner Tagträumerei. „Hörst du mir zu?“ Ich sah sie scheu an und runzelte die Stirn, blieb aber stumm. „Ach sei nicht so ein Miesepeter. Heut ist auch jemand da, der dir bestimmt gefallen wird.“ Ich konnte mir ein Augenverdrehen nicht verkneifen. „Haha und was soll das bringen? Ich bin vergeben.“ Jetzt tat Joe es mir gleich. „Ja stimmt – und du bist superglücklich, nicht wahr?“ Ich antwortete mit einen Schulterzucken, sie konterte mit Schweigen. Minutenlang liefen wir zu dritt in einer Reihe, bis ich mir die Frage – wie lang es denn noch dauern würde – nicht mehr verkneifen konnte. „Keine Ahnung, nicht mehr lang. Zehn Minuten höchstens, die Stadthalle ist ja gleich da vorn.“ Als wir endlich in die richtige Straße einbogen und Joe auf die Klingel einschlug, atmete ich erleichtert auf. Vielleicht würde es doch noch ein entspannter Abend werden. Zocken mit meinen Leuten war eigentlich immer spaßig. Die Wohnung lag im fünften Stock. John öffnete die Tür und Joe sprang ihm in die Arme. Sie küssten sich und ich schaute in eine andere Richtung, Pärchenkram war seit meiner Beziehungskrise mit Chris nicht mehr der schönste Anblick für mich. Er ließ uns herein und zum ersten Mal betrat ich seine Wohnung. Gelächter und Gefluche drangen aus dem einzigen Zimmer. Ich kannte die Stimmen nicht. Experiment-Neue-Leute-Kennenlernen Nummer zwei. Ich hoffte auf ein besseres Ergebnis, als damals, vor langer Zeit im Mai. Doch als ich das Zimmer betrat, wurde mir der Boden unter den Füßen weggezogen. Innerhalb von Millisekunden trat ich durch ein Zeitfenster und fand mich im Scandale wieder, mit zu hohen und zu kleinen Schuhen, und vor mir.. […] All das was ich in den Monaten dazwischen vergessen hatte, traf mich nun mit doppelter Wucht. In dem kleinen Raum auf einem blauen Klappstuhl mit einem Controller in der Hand saß der Junge mit den grünbraunen Augen und den schulterlangen blonden Haaren.

Wenn du mein Herz zum Tanzen bringst

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Samstag, 27. April 2013 Plötzlich sitzt ein unbekannter Typ neben mir. Er hält mir sein Bier hin und ich nehme es verwirrt in die Hand. Sein Grinsen, was man hinter seinem Vollbart eher ahnt als wirklich sieht, ist freundlich. „Ey, gleich kommen die Deftones!“ Ich ziehe meine Augenbrauen hoch. „Und da will ich dich hier nicht so trottelig rumsitzen sehen!“ Jetzt überträgt sich sein Grinsen auf mich, da ich nun verstanden habe. Oh man. Tanzen ist nicht unbedingt meine Stärke. Erst recht nicht zu den Deftones, wenn man das dann überhaupt tanzen nennen kann. Ich versuche mich herauszureden und weiß jetzt schon, dass dieser Versuch scheitern wird. „Ich glaube ich gehöre eher zu den stillen Genießern...“ - „Abgelehnt.“ Ich seufze tief. „Okay, ich bin ehrlich. Tanzen ist nicht meine Stärke...“ - „Abgelehnt! Es sind die Deftones, alter!“ - „Ja ich weiß, es sind die Deftones aber, keine Ahnung, ich schau da lieber zu.“ Genauer gesagt schau ich dir zu und der unbekannte Freundliche stört mich dabei, auch wenn seine Sympathie mir eindeutig gefällt. Doch das ist nun Geschichte, denn die Deftones gehen los und er steht auf, nicht ohne mir noch einen enttäuschten Blick zuzuwerfen. Jetzt habe ich wieder Zeit für dich – die wenigen Sekunden der Ablenkung sind auf einen Schlag vergessen. Denn du bist gerade am Tanzen. Und auch wenn du nicht tanzen kannst, Tanzen steht dir trotzdem. Deine langen Beine bewegen sich im Takt der taktlosen Musik, du lässt deine Haare wirbeln, dein Mund ist weit geöffnet und dein Atem geht flach. Dann im kurzen Moment der stille wirfst du mir ein schnelles Grinsen zu – und bringst mich damit zum Grinsen. Denn du siehst gut dabei aus. Ich könnte noch Stunden hier auf der kalten Heizung sitzen und dir zusehen, nicht ahnend, dass wirklich noch viele Stunden vergehen werden bis wir taumelnd und lachend die Veranstaltung verlassen werden, mit kalten Füßen und zitternden Fingern, die nicht mehr fähig sind eine Zigarette zu halten, dafür aber mit Köpfen und Herzen voller Liebe, die uns das Gefühl gibt, jede Kälte überstehen zu können.

Schrumpfende Grenzen

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Samstag, 04. Mai 2012.“Ey, kommste mit ins Bebel? Da is' heut nur zwei Euro Eintritt und hier is eh nichts los!“ Ich schaute in Joe's eisblaue Augen und zuckte mit meinen schwarz gekleideten Schultern. Eigentlich hatte sie recht, denn wir waren seit Stunden im zugequalmten Scandale und ER war sowieso nicht mehr da. „Komm schon mit. Ben ist schon draußen und wartet auf uns!“ Naja welche Wahl hatte ich denn da noch? Ben ließ mich an diesen Abend bei sich nächtigen, also konnte ich so oder so nichts machen. Meine Lust im strömenden Regen nach Hause zu laufen hielt sich sehr in Grenzen, denn nass werden war eigentlich nicht das Ziel des Abends. Doch die Entfernung zwischen Bebel und Scandale machte mir einen Strich durch die Rechnung. Obwohl es Anfang Mai und entsprechend mild war, war ich nach zwanzigminütigen Fußmarsch bis auf die Knochen durchgefrohren. Froh, meine aufgeweichte Jacke ausziehen zu können betrat ich die düstere Bar. Das Bebel war größer und vor allem nicht so überfüllt wie das Scandale und als ich mich umsah waren Joe und Ben plötzlich verschwunden. Ich bewegte mich auf einen rustikalen runden Tisch zu und ließ mich dankbar auf den nebenstehenden Stuhl fallen. Aber allein und unsichtbar in einer fremden Stadt in einer fremden Bar zu sitzen erfüllte mich nicht sonderlich mit Freude. Bis ich mir meine gefühlt tausendste Zigarette des Abends anzündete und IHN plötzlich sah. Lange, dünne Beine. Schwarze Hosen, spitze Schuhe. Blonde Locken, graues Shirt. Tanzend. Er hatte absolut keine Ahnung, was er in diesem Moment für eine Macht über mich hatte. Nach minutenlangen In-Seine-Richtung-Starren saß Ben wie aus dem Nichts neben mir am Tisch. Wie lang er schon dasaß konnte ich beim besten Willen nicht sagen. „Was los, Schnalle?“ Ich antwortete nicht und schließlich folgte er meinem Blick. Ein Grinsen verzog seine Lippen. „Na, der wäre was für dich, wa?“ Ich antwortete mit einen undefinierbaren Geräusch und sagte weiter nichts dazu. Ich saugte ihn regelrecht auf. Wenn ich ihn so weiter hätte zusehen können, wäre der Abend doch noch halbwegs gelungen. Ich hatte keine Ahnung, was mit mir geschah. Ich war im Begriff eine Grenze zu überschreiten, die ich mir einst selbst gesetzt hatte. Sicher, in meiner Beziehung lief es nicht gut, aber das war noch lang kein Grund einen anderen Menschen so anzusehen, wie ich es an diesen Abend tat. Zumindest dachte ich das immer. In Wahrheit nahm ich diesen Menschen, der nicht einmal mit mir gesprochen hatte, in mich auf und es vergingen fünf Monate bis ich das Glück hatte, ihn wieder zu treffen.

Die Leiter zur Erinnerung

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Irgendwann 2012. Der Schlüssel steckt und ich schließe, aus dreijähriger Angewohnheit, die Tür auf. Meine Tasche, vollgestopft mit WICHTIGEN Sachen – Laptop, Kamera, Schminke und Klamotten – landet mit einem Fluchen auf dem Boden. Es ist still hier, nur aus dem Wohnzimmer, am Ende des Hauses, zwischen Flur und Küche, dringen die leisen Geräusche des Fernsehers an meine Ohren. Seine Mutter steht in der Küche und jetzt kann ich auch das Blubbern der Kaffeemaschine hören und die frisch gemahlenen Bohnen riechen. Sie lehnt sich nach hinten um mich richtig sehen zu können und grinst mich an. „Naaaaaaaa!“ Ich antworte mit einem Winken meiner rechten Hand, während ich mit meiner linken versuche den klemmenden Reißverschluss meines Stiefels zu lösen und mir dabei nur mit Mühe ein weiteres Fluchen unterdrücken kann. „Ist er oben?“ Sie verdreht die Augen und zuckt mit den Schultern. „Ja. Der pennt oder zockt, so wie immer.“ Mein Grinsen wird etwas gequälter, kommt mir zumindest so vor. „Typisch. Ich bin dann mal oben.“ Ich schleppe meine Sachen den Flur entlang und öffne die Tür, die zu seinem Zimmer führt und mich mit dem Schild „Regierungsbezirk CHRIS – mein Wort ist hier Gesetz!“ begrüßt. Der Vorraum ist nur drei Quadratmeter groß, lediglich der Spiegel, den ich zum Schminken benutze hängt an der Wand direkt gegenüber der Tür. Es ist still und ich lasse meinen Krempel erneut auf den Boden plumpsen, wo er aber für die nächsten paar Stunden liegen bleiben würde. Die Treppe, die eigentlich eine Leiter werden wollte, liegt ein wenig versteckt um die Ecke. Jedes mal wenn ich vor ihr stehe, erinnere ich mich an die damals noch guten Zeiten, an die mindestens zweitausend Mal, die ich hier heruntergepurzelt bin, weil diese Halb-Treppe-Halb-Leiter einfach viel zu steil war. Dann rufe ich seinen Namen, obwohl ich schon weiß, dass keine Antwort kommen wird. Als ich, mittlerweile sehr gut in Übung, die Leiter hochklettere begrüßt mich das leise Summen des PC's. Das Zimmer ist warm, alle Rollläden sind heruntergezogen und ich sehe ihn nicht. Das ist leicht zu erklären, denn er liegt im Bett hinter mir, auf der anderen Seite des Raumes und schläft. Ich drehe mich um und sehe ihn, obwohl er unter der Decke vergraben ist. Mit leisen Schritten bewege ich mich zum Bett und setze mich auf den Rand. Er zuckt kurz, als ich mit der Hand seinen Nacken streichle. Sein Schlaf ist unruhig, so wie immer. Er registriert jede Bewegung. Das so ziemlich Einzige, was so geblieben ist. Der Rest hat sich über die Jahre verfremdet, zumindest für mich. Manchmal wünschte ich, dass ich mit ihm reden könnte, aber das ist leider nicht möglich. Früher habe ich mir eingeredet, dass ich ihn schützen muss. Heute weiß ich es besser. Die schlichte und erschütternde Antwort darauf ist einfach, dass ich feige bin. Feige und egoistisch, weil ich ihm nicht die Wahrheit sagen kann. Ich weiß nicht, wie lang ich noch so dasitzen werde und versuche zu lächeln, doch es gelingt mir nicht.

Horrorkinder